Jörg Rössel ist Soziologieprofessor an der Universität Zürich mit Schwerpunkt Wirtschafts- und Konsumsoziologie, Migration und Integration. Wir haben mit ihm über die aktuelle Situation gesprochen.
Aktuell scheint es, dass kein Stein auf dem anderen bleibt. Alle blicken wir in eine ungewisse Zukunft — was macht das mit uns?
Unsicherheiten werden von Menschen tendenziell negativ wahrgenommen. Der britische Soziologe Anthony Giddens spricht davon, dass wir einer «ontologischen Sicherheit» (Seinsgewissheit) bedürfen, um auf Dauer psychisch gesunde, handlungsfähige Akteure zu bleiben. Auch die Psychologie bestätigt die Relevanz von Sicherheit, vor allem hinsichtlich der Kontrolle über die eigenen Handlungen und die Vorhersagbarkeit der Zukunft für unsere psychische Verfassung. Allerdings gibt es hier klare Unterschiede. Manche benötigen mehr Sicherheit im Sinne von Routinen, Ritualen und der Dauerhaftigkeit als andere.
Inwiefern beeinflusst die Tatsache, dass die aktuelle Gefahr weder sicht- noch greifbar ist, unsere Angst?
Das Virus an sich mag unsichtbar sein. Doch die Bilder aus Bergamo, New York oder Spanien haben uns die Gefahr sehr real vor Augen geführt. Ohne diese Bilder wäre die Skepsis gegenüber den Massnahmen zur Bekämpfung von Corona sicher deutlich grösser. Anders sieht es beim Klimawandel aus, wo die Veränderungen tatsächlich schleichend und nicht eindeutig sichtbar stattfinden. Zunehmende Hitzesommer kann man als besonders sommerliches Wetter verbuchen, die abschmelzenden Gletscher nehmen nur die Bergsteiger wahr und die Trockenheit vor allem die Landwirte. Insofern wäre der Klimawandel eher ein Beispiel für eine weniger gut sichtbare Gefahr.
Ständig wünschen wir uns mehr Freiheit, mehr Selbstbestimmung. Jetzt, wo nicht mehr jeder Schritt absehbar ist, sind wir verunsichert. Brauchen wir feste Strukturen und (soziale) Sicherheit, um richtig frei sein zu können?
Definitiv. Damit wir Alternativen oder Chancen nutzen können, müssen immer schon sehr viele Dinge geregelt sein. Erst wenn in weiten Bereichen Sicherheit herrscht, können wir in diesen ausgewählten Bereichen frei entscheiden und unser Leben gestalten. Doch Sicherheit ist kein objektives Phänomen, es wirkt primär als gefühltes Phänomen, hängt also auch von unseren Erwartungen ab. Dazu kommt, dass viele Dinge nicht mehr als sicher angenommen werden. Es gibt keinen stabilen Glauben mehr, der für alle verbindlich ist, tradierte Normen werden nicht mehr als selbstverständlich betrachtet ‒ es könnte alles auch anders sein. Dies kann ein Gefühl von Unsicherheit erzeugen.
Was können wir tun, damit Angst und Unsicherheit nicht überhandnehmen?
Das fällt eher in den Bereich der Psychologie. Hier gibt es vermutlich zwei Hauptstrategien: Man kann entweder die Situation verändern oder vermeiden, die Unsicherheit erzeugt (auch proaktiv) oder man kann seinen Umgang mit der Situation verändern, zum Beispiel durch mehr Wissen, grössere Toleranz gegenüber unsicheren oder mehrdeutigen Situationen. Schliesslich ‒ und das ist kein rein psychologisches Argument mehr ‒ können wir uns natürlich für die Veränderung der Situation politisch engagieren. Dies kann auf unterschiedlichen Ebenen geschehen.
Sind wir ob all den vielen Ungewissheiten noch stärker als sonst für das eigene Glück — die eigene psychische Gesundheit — selbst verantwortlich?
Sozialforscher können etwas darüber sagen, wie sich die Situation darstellt, wie man sie erklären kann und welche Folgen sie hat. Aber wir würden normalerweise die Situation nicht bewerten. Die Bewertung hängt immer vom eigenen politisch-moralischen Standpunkt ab. Ein Liberaler würde uns vermutlich auf dem Weg in die Entmündigung sehen, für Konservative, aber auch für Sozialdemokraten mögen externe Regelungen für mehr Sicherheit sorgen, die uns damit auch mehr Freiheit geben. Die Soziologie hält sich in der Bewertung zurück.
Das Gespräch führte Anina Rether, Redaktorin WIR KAUFLEUTE
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