Die Sozialpartnerschaft in der Schweiz ist seit über einem Jahrhundert ein bewährtes Konzept, das unsere Arbeitsbeziehungen und wirtschaftliche Stabilität entscheidend prägt. Was steckt hinter diesem Begriff, und warum ist er für die Schweiz so bedeutsam? 1918 wurde in der Schweiz gestreikt: Über 250 000 Arbeiter:innen forderten die 48-Stunde-Woche, eine Altersvorsorge und auch das Frauenstimmrecht. Ihnen gegenüber standen 95 000 Soldaten.

Die Wurzeln der Schweizer Sozialpartnerschaft reichen ins Jahr 1911 zurück, als sie im Obligationenrecht verankert wurde. Einen entscheidenden Schub erhielt sie durch das Friedensabkommen von 1937 zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebenden der Maschinenindustrie. Dieser historische Akt läutete eine Ära des Arbeitsfriedens ein und trug in den Nachkriegsjahren massgeblich zum wirtschaftlichen Aufschwung der Schweiz bei.

In anderen Ländern hätte der Landesstreik von 1918 wohl in einen Bürgerkrieg geführt. Über 250 000 Arbeiter:innen streikten, sie forderten die 48-Stunde-Woche, eine Altersvorsorge und das Frauenstimmrecht. 95 000 Soldaten standen den Streikenden gegenüber. Es gab drei Tote und die Stimmung war explosiv. Trotz heftigen Polarisierungen siegte schliesslich die Vernunft und ein grundlegendes Demokratieverständnis auf beiden Seiten. Soziale und politische Reformen wurden in Angriff genommen und die nach diesem Streik beginnende Sozialpartnerschaft zwischen Abeitnehmenden- und Arbeitgebendenorganisationen wirkt bis heute positiv.

Im Kern geht es bei der Sozialpartnerschaft um den konstruktiven Dialog zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden. Statt auf Konfrontation und Streiks setzen die Beteiligten auf Konsens und suchen gemeinsam nach Lösungen für arbeitsrechtliche und wirtschaftliche Herausforderungen. Diese Herangehensweise hat sich als äusserst erfolgreich erwiesen und gilt international als Vorbild. Das
Herzstück bilden die Gesamtarbeitsverträge, kurz GAV. Diese Verträge regeln die Arbeitsbedingungen für bestimmte Branchen oder Unternehmen. Sie ermöglichen es, massgeschneiderte Lösungen zu finden, die einerseits zu verbesserten Arbeitsbedingungen führen und andererseits den spezifischen Bedürfnissen der jeweiligen Branche gerecht werden.

Die Bedeutung der Sozialpartnerschaft für die Schweizer Wirtschaft kann kaum überschätzt werden. Sie trägt wesentlich zum sozialen Frieden bei, indem sie einen fairen Interessensausgleich zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden fördert. Dieser soziale Frieden, der zum Beispiel eine hohe Qualitäts- und Liefertreue sichert, ist ein wichtiger Standortvorteil für die Schweiz und macht das Land für
internationale Unternehmen attraktiv. Ein weiterer Vorteil liegt in ihrer Flexibilität. In Gesamtarbeitsverträgen lassen sich neue Entwicklungen und Bedürfnisse am Arbeitsmarkt wie z. B. flexible Arbeitszeiten oder eine Elternzeit rasch aufnehmen und regeln. All dies macht die Schweizer Wirtschaft anpassungs- und wettbewerbsfähig. Zudem schaffen GAV Transparenz und Rechtssicherheit für alle Beteiligten.

Trotz dieser unbestrittenen Erfolge steht die Sozialpartnerschaft in der Schweiz vor Herausforderungen. Der Mitgliederschwund macht den Arbeitnehmenden- wie auch Arbeitgebendenverbänden zu schaffen. Gleichzeitig zeigen sich mit der zunehmend politischen Polarisierung Risse im Konsensprinzip. Es gilt, sich auf die zentralen Werte unserer politischen Kultur zurückzubesinnen: Pragmatismus, Kompromissbereitschaft und die Fähigkeit, über ideologische Gräben hinweg Lösungen zu finden. In einer Ära, in der in vielen Ländern populistische Strömungen an Boden gewinnen, bietet die Sozialpartnerschaft ein Gegenmodell. Und zeigt, dass sozialer Ausgleich und wirtschaftlicher Erfolg keine Gegensätze sein müssen, sondern sich gegenseitig bedingen können.

Die Zukunftsfähigkeit der Sozialpartnerschaft wird davon abhängen, wie gut es gelingt, dieses Modell an die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Themen wie Digitalisierung, Klimawandel, demografischer Wandel sowie zunehmende Prekarität erfordern neue Ansätze. Die Sozialpartnerschaft steht vor der Aufgabe, mit politischem Geschick, Mut und Weitsicht innovative und diskriminierungsfreie Lösungen zu entwickeln, so dass nicht auf gesetzgeberische Lösungen gesetzt und gewartet werden muss.


GAV des Kaufmännischen Verbands Schweiz

Auf nationaler Ebene vertritt der Kaufmännische Verband Schweiz als Sozialpartner landesweit tausende von Arbeitnehmenden in Gesamtarbeitsverträgen (GAV), wie zum Beispiel:
> Landes-Gesamtarbeitsvertrag (L-GAV) für die Migros-Gruppe 2023 – 2026
> Gesamtarbeitsvertrag Coop Genossenschaft
> Gesamtarbeitsvertrag Lidl Schweiz
> Vereinbarung über die Anstellungsbedingungen der Bankangestellten
> Gesamtarbeitsvertrag für Mitarbeitende der Swissport International AG
> Gesamtarbeitsvertrag SWISS Bodenpersonal


* Bildlegende: Truppenaufmarsch in Bern während des Landesstreiks (Foto: Swiss Federal Archives / Wikimedia Commons)