Wie bewahren wir menschliche Werte in einer Welt, die zunehmend von Algorithmen, Daten und virtuellen Realitäten geprägt ist? Welchen Stellenwert haben Werte in Zeiten des digitalen Wandels noch? Ein Plädoyer für eine Rückbesinnung darauf, was uns als Menschen ausmacht und wie Werte ein gesellschaftliches Zusammenleben mit und trotz Technologien erst ermöglichen.

Das Internet, Algorithmen und künstliche Intelligenz prägen unseren Alltag

Wir sind ‒ rein technisch gesehen ‒ rund um die Uhr verbunden mit unseren digitalen Geräten. Das ist für die meisten von uns so selbstverständlich geworden, dass wir es kaum mehr hinterfragen. Zwar führen wir Debatten zum Wert von Privatsphäre, physischen Interaktionen und zu fairen Algorithmen. Aber verlieren wir nicht gerade angesichts digitaler Hypervernetzung das aus den Augen, was uns als Menschen ausmacht? Wie stellen wir sicher, dass der technologische Fortschritt, den wir erleben, auch uns als Menschen und Gesellschaft wirklich dient?

«Technik ist weder gut noch schlecht, aber auch nicht neutral.»

Der Technikhistoriker Melvin Kranzberg hat 1986 sechs Technologiegesetze veröffentlicht. Das erste wird am häufigsten zitiert: «Technik ist weder gut noch schlecht, aber auch nicht neutral.» Es bleibt eine zentrale Feststellung, dass sich digitale Technologien an sich weder positiv noch negativ auswirken. Es hängt immer vom jeweiligen Kontext ab, von der Perspektive und von den Absichten ihres Einsatzes.
Dieselbe Technologie kann sowohl zur Befreiung wie zur Unterdrückung verwendet werden. Wichtig ist der Zusatz «aber auch nicht neutral», der besagt, dass der Einsatz von Technik an sich einen Unterschied macht.

Das World Wide Web doch gelten in den USA nicht die gleichen Werte wie in Europa

Facebook und Google haben oft argumentiert, sie seien neutral, und daher weder für Inhalte zuständig noch dafür, wer Anzeigen schalte. Zweifellos prägen Google und Facebook das digitale Zeitalter und haben grosse Verdienste daran, Menschen und Informationen sinnvoll zusammenzubringen.
Gleichzeitig kann eine Plattform, die aus Geschäftsinteresse Zensur in bestimmten Ländern zulässt, die Verbreitung von Desinformation algorithmisch belohnt, von Propaganda-Anzeigen finanziell profitiert und Aufrufe zum Völkermord stehen lässt, kaum wertneutral sein. Inzwischen greift da und dort rechtliche Regulierung, trotz intensiven Lobbyings von grossen Technologiekonzernen in Washington D.C., Brüssel und anderen Machtmetropolen der Welt. Jedoch gelten in den USA nicht die gleichen Werte wie in Europa: So haben europäische Gerichte mit dem «Recht auf Vergessenwerden» Privatsphäre und Persönlichkeitsschutz über den hohen Stellenwert der Redefreiheit in den USA gestellt, wo man Zensur fürchtet, wenn man persönliche Daten aus dem Internet entfernen lassen kann.

Der verantwortungsvolle Technikeinsatz muss stets von ethischen Überlegungen begleitet werden

Kranzbergs Technologiegesetze erinnern daran, dass der verantwortungsvolle Technikeinsatz stets von ethischen Überlegungen begleitet werden muss. Dafür braucht es umfassende Bildung, um konstruktiv kritisches Denken und ethische Reflexion zu fördern. Das sind Fähigkeiten, die uns befähigen, den digitalen Wandel nicht nur passiv zu erleben, sondern aktiv mitzugestalten.

Die Black Box ‒ Algorithmen

Transparenz ist ein weiterer wichtiger Wert. Viele Algorithmen, die unseren Alltag beeinflussen ‒ sei es bei der Kreditvergabe, in sozialen Netzwerken oder bei der Personalauswahl ‒ sind für uns eine «Black Box». Wir wissen nicht, nach welchen Kriterien sie Entscheidungen treffen und ob diese Entscheidungen fair sind. Hier ist es entscheidend, dass Organisationen offenlegen, wie ihre Algorithmen funktionieren und mit welchen Daten ihre Systeme trainiert wurden. Gerade Chatbots sind auf gute Trainingsdaten angewiesen. Zudem nehmen sie es mit dem Wert der Wahrheit nicht genau.

Es ist zentral, Innovationen nicht nur als Fortschritt zu feiern

Der Wert von Werten im digitalen Zeitalter zeigt sich also in der Fähigkeit, Technologie bewusst und verantwortungsvoll zu nutzen. Persönlich bin ich oft begeistert von neuen Tools und dankbar für digitale Unterstützung. Gleichzeitig ist es zentral, Innovationen nicht nur als Fortschritt zu feiern, sondern auch ihre Risiken zu minimieren. Wir brauchen eine Rückbesinnung auf Fairness, Respekt, Wahrheit und Integrität ‒ und die Bereitschaft, diese Werte auch in einer digitalisierten Welt zu verteidigen. Denn nur so
können wir sicherstellen, dass Technologie im Dienste der Menschheit steht – und nicht umgekehrt.


Über die Autorin

Dr. Sarah Genner ist Digitalexpertin, Dozentin und Verwaltungsrätin. Sie ist Autorin der Bücher «ON / OFF» und «ABC Digital».